Wanderer
Johann Adam Reincken war eine Berühmtheit; kein
Geringerer als Johann Sebastian Bach machte sich
als 16jähriger Gymnasiast von Lüneburg aus zu Fuß
auf den Weg, um den unumstrittenen Meister der
Improvisationskunst in Hamburg zu erleben. Und was
der junge Mann zu hören bekam, muss ihn tief
beeindruckt haben: In seinen Toccaten orientiert Bach
sich eng am großen Vorbild, er zitiert sogar
motivisches Material aus Reinckens Werken und
entwickelt es weiter. Sonja Kemnitzer hat einige von
Reinckens eindrucksvollen Cembalowerken eingespielt
und liefert ein erhellendes Hörerlebnis, das
diese Faszination sofort nachvollziehbar macht.
Fantasie
Besonders die Toccaten geben einen aufschlussreichen
Eindruck von Reinckens
improvisatorischem Genie. Schon die eröffnende
Toccata in A überrascht mit außergewöhnlichem
Stilreichtum. Sprunghafte Affektwechsel, quasi
violinistische Passagen und jäh abgebrochene Motive
lassen an impulsives Stegreifspiel denken, und erst
ein zweiter Blick offenbart die kontrapunktische
Raffinesse einer kunstvoll ausgeklügelten
Komposition. Dass das Werk zeitweise auch Bach
zugeordnet wurde, hätte Reincken bestimmt nicht
gestört – sah er im jungen Bach doch die Hoffnung
auf ein Weiterleben der überlieferten Kunst…
Schlager
Reinckens schier überbordende Fantasie findet ihren
Niederschlag auch in den Variationen über den
Gassenhauer „Schweiget mir vom Weiber nehmen“,
einer humorvollen Huldigung des Junggesellendaseins.
Etliche andere Komponisten haben sich
dieses barocken Schlagers angenommen – aber
Reincken fallen dazu gleich 18 Veränderungen ein!
Dass dabei keinen Augenblick Langeweile aufkommt,
garantiert auch Sonja Kemnitzers abwechslungsreiches
Spiel, das die Affekte jeder einzelnen
Variation kenntnisreich und liebevoll präsentiert.
Zeitmaschine
Die motivische Verzahnung der Tanzsätze ist in
Reinckens Suiten frappant. Besonders Allemande und
Courante erhalten durch die bis ins Detail gehende
thematische Übereinstimmung einen improvisatorischen
Charakter, als entstünden die Tanzcharaktere
im Augenblick des Spielens und Hörens.
Die äußerst plastische klangliche Abbildung des
Cembalos auf der hochauflösenden Super Audio CD
tut ihren Teil, um den fantasiebegabten Hörer in die
Entstehungszeit dieser Musik zu versetzen –
staunend wie der junge Bach…