Degustation
Wenn es ein musikalisches Äquivalent zu einem
großen französischen Rotwein gibt: Die Musik von
Émile-Robert Blanchet wäre ein würdiger Kandidat.
Karl-Andreas Kolly hat sich Klaviermusik seines
Schweizer Landsmanns vorgenommen und auf Super
Audio CD eingespielt, vieles davon zum ersten Mal.
Blanchet studierte bei Busoni, kein Wunder, dass
auch er pianistisch keine Grenzen gelten lässt. Die
Selbstverständlichkeit mit der Andreas Kolly diese
Höchstschwierigkeiten meistert, lässt Raum für
musikalische Tiefe mit langem Nachklang.
Jahrgang
Nach Studium in Weimar und Berlin kehrte Blanchet
zurück nach Lausanne, wo er am Konservatorium
unterrichtete und auch eine Zeitlang die Leitung
übernahm. Bereits im Alter von 40 Jahren kehrte er
allerdings dem Lehrbetrieb den Rücken, um sich fast
ausschließlich seiner Leidenschaft, dem Bergsteigen,
zu widmen. Glücklicherweise spielte er gelegentlich
weiterhin Recitals, für die er immer wieder eigene
Stücke komponierte.
Auslese
Auf virtuosen Effekt kommt es Blanchet offensichtlich
nicht an. Immer wieder finden sich herbe
Dissonanzen in den vollgriffigen Akkorden, die eine
intensive, mitunter geradezu bedrohliche Atmosphäre
erzeugen, so etwa in „Tocsin“ (Alarmglocke), das –
anders als bei vielen nationalistisch-euphorisierten
Zeitgenossen – schon im August 1914 die Schrecken
des Ersten Weltkriegs vorauszuahnen scheint.
Grand Cru
Sei es in den zahlreichen Etüden, sei es in den
Balladen oder Nocturnes: Blanchets eigenwillige
Harmonik entfaltet vor allem im Nachschmecken
vielschichtiger Reize. Karl-Andreas Kolly spürt diesen
besonderen Klängen mit großer Sensibilität nach; der
Steinway Konzertflügel „Manfred Bürki“ von 1901 tut
mit profunder Tiefe und brillantem Diskant sein
Übriges für ein nachhaltiges Hörerlebnis, das zur
Wiederholung geradezu einlädt.