Im Frühtau
Jugendlich, optimistisch, lebensbejahend: So kennen
wir Felix Mendelssohn Bartholdy. Aribert Reimann hat
an der Oberfläche gekratzt und ein völlig anderes
Mendelssohn-Bild zum Vorschein gebracht. Seine
Zusammenstellung von Liedern des genialen
Frühromantikers trägt bezeichnenderweise „…oder
soll es Tod bedeuten?“ im Titel – ein Zitat aus einem
der vertonten Heine-Texte. Christiane Oelze
präsentiert diese berührend-verstörende Sammlung
gemeinsam mit dem Leipziger Streichquartett als
existentielle Lebenserfahrung, die die ganze
Bandbreite romantischer Gefühlswelt umschließt.
Der Zeit voraus
„Leise zieht durch mein Gemüt liebliches Geläute“ –
schon die eröffnende Textzeile dieser CD zielt auf das
Wesen der Romantik. Und über „Auf Flügeln des
Gesanges“ bis zu „Was will die einsame Träne?“
spannt sich ein Bogen von bekannten und weniger
bekannten Liedern. In seiner Quartettfassung lenkt
Reimann den Blick auf die Zwischentöne; Flageolets,
Sul-ponticello-Spiel und col legno bestimmen den
Charakter mit zerbrechlichen Klängen. Sechs frei
komponierte Intermezzi verbinden die acht Lieder,
Heines ambivalente Gedichte kommentierend,
vorausfühlend und nachempfindend.
abends
Viel später als Mendelssohn vertont Johannes
Brahms fünf Gesänge der Ophelia aus dem 4. Akt von
Shakespeares Hamlet. Mit äußerst reduzierten Mitteln
wird der schleichend fortschreitende Wahnsinn von
Hamlets Geliebter in Szene gesetzt. Aribert Reimanns
Quartett-Version intensiviert diesen Eindruck
verletzlicher Verlassenheit – ergreifende Schlichtheit,
die unter die Haut geht! Mit der „unglückseligen
Träumerin“ Ophelia eröffnet auch Robert Schumann
seinen Zyklus op. 107 – wie gut, dass er im
„Abendlied“ dann doch ein tröstlich-versöhnliches
Ende findet…
zukunftsweisend
Die zwei „Sterbechoräle“, die Schumann in der
Nervenheilanstalt in Endenich noch zu Papier
gebracht hat, dienen Reimann als Vorlage für eine
besondere Hommage an den großen Romantiker: Im
„Adagio im Gedenken an Robert Schumann“ geht
dessen sehnsuchtsvoller Tonfall eine
bemerkenswerte Symbiose mit aktueller Tonsprache
ein, wehmütige Reminiszenzen an längst vergangene
Zeiten werden jäh von schroffen Akzenten und wilden
Pizzicati unterbrochen. Selten wurde der suchende
Geist der Romantik packender in moderne Zeiten
übersetzt.